
In unsere Physiotherapiepraxis in Reutlingen kommen sehr häufig Menschen, die über Nacken- oder Kopfschmerzen klagen und manchmal auch Ausstrahlungen oder Kribbeln bis in die Hände spüren.
Viele dieser Leute haben eine ganze Odyssee an Arztbesuchen (Ärzte-hopping) hinter sich und versuchen mit aller Macht herauszufinden, was sich hinter diesen Schmerzen verbirgt und wie sie diese endlich loswerden.
Scheinbar gibt es einfach keinen greifbaren Grund für diese nervenden Symptome und einige der Betroffenen beginnen sogar irgendwann, an sich selbst zu zweifeln.
Kommt der Schmerz wirklich noch immer von einer Verspannung?
Ist das Kribbeln psychisch bedingt oder vielleicht doch nur Einbildung?
Solche Fragen kommen dann auf und irgendwann fällt es schwer, überhaupt noch an eine Besserung zu glauben und nicht voller Wut und Enttäuschung alle Bemühungen an den Nagel zu hängen.
Genau so ging es zwei meiner Patienten, deren jahrelange Leidensgeschichten ich ihnen kurz beschreiben möchte:
Meine erste Patientin Frau B. kam in meine Physiotherapiepraxis nach Reutlingen mit Schmerzen im Nackenbereich. Manchmal spürte sie ein seltsames Kribbeln im rechten Arm und ihre Finger waren kraftlos und fühlten sich so an, als ob diese nicht zum Körper gehörten.
Während ihrer Arbeit mit elektronischen Bauteilen konnte sie die feinen Schrauben nur noch mit viel Konzentration montieren und auch im Alltag zeigten sich mittlerweile immer häufiger bläuliche Verfärbungen an ihren Händen.
Eigentlich nahm Frau B. nur Physiotherapie bei uns in Reutlingen in Anspruch, weil ihr vom Arzt noch mal ein Rezept ausgestellt wurde und sie das nicht verfallen lassen wollte.
“Vielleicht tut es ja wenigstens ein bisschen gut”, war ihre Aussage, die zeigte, mit welcher geringen Motivation sie überhaupt in unsere Praxis kam.
Mehr hätte sie aber auch gar nicht erwarten können, da sie in den letzten zehn Jahren wirklich so ziemlich alles versucht hat, was man sich vorstellen kann:
Kernspin, Ultraschalluntersuchung, Spezialärzte, Heilpraktiker, Osteopathen und unzählige weitere medizinische Maßnahmen, die noch mindestens zwei Zeilen Platz bräuchten.
Nachdem ich Frau B. bei unserem ersten Termin bis ins kleinste Detail befragt und mit manuellen Tests untersucht hatte, gab es mehrere Anzeichen, die meine Vermutung auf ein Syndrom lenkten, welches sehr oft unterdiagnostiziert und fast nie erkannt wird:
Das sogenannte Thoracic-Outlet-Syndrom (TOS).
Es gibt mehrere Unterteilungen dieses mechanischen Problems, das immer eine ähnliche Ursache hat:
Eine Einklemmung von Nervenbahnen und manchmal auch Blutgefäßen, die von der Halswirbelsäule bis in die Finger verlaufen.

Warum TOS so häufig unerkannt bleibt
Warum es eine so große Dunkelziffer an unerkannten, betroffenen Menschen gibt, hat mehrere Gründe:
Das Wissen über „TOS“ stammt aus der Chirurgie. Dort werden aber nur die seltenen Fälle bekannt, die so heftige Schmerzen verursachen, dass man operieren muss (vaskuläres TOS).
Diese Patienten haben dann schon blaue Hände oder sogar eine Thrombose und die Engstellen müssen dringend chirurgisch aufgeschnitten werden.
Das viel häufiger vorkommende, sich schwächer zeigende „neurogene TOS“ wird aber meistens nicht als „Thoracic-Outlet-Syndrom“ und damit überhaupt als Erkrankung anerkannt.
Hinzu kommt, dass diese Form häufig durch die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit rutscht und ein negatives Ergebnis hervorbringt (falsch negatives Ergebnis der Elektroneurographie).
Das Leiden bleibt also beinahe immer unerkannt und wird unabsichtlich einfach unter den Tisch gekehrt.
Manchmal gehen Patienten dann von einer psychischen Komponente aus und sind stark verzweifelt.
Es fühlt sich einfach belastend an, wenn man Schmerzen hat und nicht weiß woher es kommt und was man machen soll.
Vielleicht kennen Sie das und es geht ihnen wie Frau B.
Bei ihr konnten wir letztendlich eine weitergehende Diagnostik einleiten, die das Rätsel auflöste und zeigte, warum sie sich jahrelang nie mit Freude bewegen konnte:
Auf ganz speziell angefertigten MRT-Bildern war zu erkennen, dass sie rechts einen zu breiten Halswirbel hatte und ihre Nervenstrukturen schon von Geburt an, unnatürlich zusammengewachsen und verklebt waren.
Das Problem musste in diesem Fall operiert werden und nach ein paar Monaten der Heilung, hat sie nun endlich kaum noch Einschränkungen.
Sie spürt ihre Arme heute wieder so gut, wie zuletzt als kleines Mädchen und es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass sich ihre Lebensqualität nahezu verdoppelt hat.
Die Ursachen für TOS sind sehr vielfältig. Manchmal gibt es angeborene Fehlbildungen, z. B. haben Leute eine Rippe zu viel oder einen zu breiten Halswirbel, der die Strukturen einengt.
Viel häufiger sind es aber weniger schlimme Probleme und die Haltung ist nicht ideal, die Muskulatur (M. trapezius) zu schwach oder psychischer Stress spielt eine bedeutende Rolle.
Die gute Nachricht ist, dass wir in 8 von 10 Fällen mit Physiotherapie eine Beschwerdefreiheit erreichen können und nur selten eine weitere Diagnostik mit operativer Versorgung in Betracht gezogen werden muss.
Meine zweite Patientin Nadja gehörte leider auch zu den seltenen Fällen und ich konnte mit manueller Therapie keine anhaltende, zufriedenstellende Verbesserung erzielen.
Woran das lag, sollte sich erst einige Wochen später herausstellen.
Nadja war gerade 18 Jahre alt geworden und hatte schon seit der fünften Klasse immer eine Art Schweregefühl auf den Schultern. Sie berichtete mir, dass es ihr so vorkommt, als hätte sie ständig einen schweren Rucksack auf, obwohl sie das schon längst vermied.
Außerdem hatte sie blaue Venenzeichnungen an den Unterarmen und war in der Schule sehr eingeschränkt.
Bei längeren Schreibaufgaben, konnte sie den Stift kaum noch halten und es fiel ihr immer schwerer, leistungsmäßig mit ihren Freundinnen mitzukommen, was ihr auch psychisch regelrecht den Hals zuschnürte.
Bestimmt können Sie sich vorstellen, wie das für ein strebsames Mädchen wie Nadja sein muss, wenn man Angst vor der Zukunft hat und nicht weiß, wie stark man später körperlich behindert sein wird und ob man überhaupt noch am normalen Alltags- und Berufsleben teilnehmen kann.
Als sie zu mir zur Physiotherapie nach Reutlingen kam, hatte sie nur ein Rezept für Massage bei Kieferbeschwerden, was eigentlich gar nicht zu ihren Symptomen passte.
Nachdem ich eine ausführliche Untersuchung gemacht hatte und meine Tests beendet waren, habe ich ihrer Mutter empfohlen, schnellstmöglich eine weitergehende TOS-Diagnostik zu veranlassen, bei der man eine spezielle MR-Angiographie durchführen muss.
Sie hat diesen Rat befolgt, wurde allerdings gleich zweimal ziemlich schroff abgewiesen:
“Dieses Syndrom ist es nicht und der Therapeut soll sich nicht so wichtig nehmen.
Nadja soll einfach weiter zur Massage”, war die Aussage eines Orthopäden.
Für mich machte eine weitere Physiotherapie bei Nadja allerdings keinen Sinn mehr und ich war davon überzeugt, dass man ohne genauere Untersuchung keine Verbesserung mehr erzielt.
Zu Nadjas Glück wollte sich auch ihre Mutter mit der ganzen Situation so nicht zufriedengeben und hat weiterhin versucht, alle Hebel in Gang zu setzen.
So hat sie noch mal eine weite Fahrt auf sich genommen und ist in eine Klinik gefahren, die nur auf TOS spezialisiert ist.
Und tatsächlich konnte man dort nach langen, anstrengenden Untersuchungen das Puzzle zusammensetzen und endlich die Ursache benennen, die Nadjas Pubertät zu zerstören drohte:
Nadja hatte an beiden Halsseiten jeweils eine Rippe zu viel, die zusammen den Durchgang der Nerven und Blutgefäße fast vollständig verengt hatten.
Ohne OP hätten ihr möglicherweise Folgen gedroht, die ich mich kaum auszusprechen traue.
Stellen Sie sich mal vor, man wäre der Sache nicht weiter auf den Grund gegangen und Nadja hätte eine Thrombose erlitten?
Nicht auszudenken!
Heute hat Nadja zwar noch immer etwas Schmerzen, allerdings bei weitem nicht mehr so intensive wie früher.
Wenn Sie diese beiden Fälle betrachten, sollte Ihnen klar werden, wie wichtig es ist, dass man mit Ärzten und Therapeuten zusammenarbeitet, die wirklich sehr qualifiziert weitergebildet sind.
Achten Sie also bestmöglich darauf, dass Ihr Arzt und Therapeut eine genaue Untersuchung macht und nach aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnissen behandelt.
Wie Sie TOS erkennen und entgegenwirken
Natürlich können Sie von zuhause aus keine sichere Diagnose stellen. Wenn Sie allerdings eines oder mehrere der nachfolgenden Symptome bei sich wahrnehmen, könnte es sich um ein TOS handeln:
- Schmerzen und Empfindungsstörungen können im gesamten Nackenbereich, in den Armen und Händen auftreten
- Nackenpartie und Arme werden bei Armbelastung schnell müde
- insbesondere lang andauernde Arbeiten vor dem Körper, wie Fenster putzen oder Instrumente spielen fallen schwer
- kalte, bläuliche oder weiße Hände
- in Ruhephasen, speziell nachts oder früh morgens kann es zu kribbeln oder „Pelzigkeit“ einzelner Finger oder in der ganzen Hand kommen
Dazu gebe ich ihnen vier weitere wertvolle Tipps an die Hand, die Sie bei Verdacht auf TOS sofort umsetzen können:
1. Test: Roos Test

Wenn Ihre typischen Symptome dadurch ausgelöst werden, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass Sie ein TOS haben.
2. Test und gleichzeitig Behandlung: Cyriax-Release-Haltung

Nehmen Sie diese Haltung ein, sodass Ihre Schultern auf beiden Seiten möglichst nahe zu den Ohren kommen.
Es ist ganz egal, wo Sie sitzen und Sie können ihre Unterarme auf eine Tischplatte, gestapelten Büchern oder Handtüchern ablegen.
Werden nach ein bis zwei Minuten Ihre typischen Symptome ausgelöst, könnte es sich um ein TOS handeln.
Sollten einer oder sogar beide Tests ein Symptom auslösen und damit positiv sein, führen Sie als erste Übung einfach die beschriebene Cyriax-Release-Haltung durch.
Vielen Patienten ist bekannt, dass man generell die Schultern unten halten soll, was auch stimmt, allerdings ist bei TOS erst einmal das Gegenteil viel optimaler für Sie.
Diese Haltung öffnet nämlich den Raum des Thoracic Outlets und bringt sofort eine enorme Entlastung für die ständig eingeengten Strukturen.
Sehr interessant ist, dass während der Übung die Symptome oftmals ausgelöst werden und nach einiger Zeit teilweise stark in Erscheinung treten können.
Das ist allerdings überhaupt kein Grund zur Panik und Sie sollten die Übung am besten so lange durchhalten, bis die Symptome wieder abklingen.
Diese positiven, erwünschten Schmerzen sind ganz einfach durch das Wiedereinsetzen der Durchblutung zu erklären und es führt kein Weg vorbei, diese bei den ersten Übungseinheiten auszuhalten.
Tipp:
Sie können diese Entlastungshaltung eine Zeit lang mehrmals am Tag für fünf Minuten einnehmen, noch besser ist allerdings, sogar eine halbe Stunde so zu verharren, z. B. wenn Sie abends einen Krimi ansehen.
Es ist genial, was für Ergebnisse wir in der Vergangenheit mit nur dieser einen Übung erzielen konnten. Oftmals schliefen Patienten nach langer Zeit gleich die erste Nacht wieder durch, ohne wie gewohnt mit Schmerzen aufzuwachen.
3. Schonen Sie Ihre Halswirbelsäule, sowie Arme und Hände
Sie können sich ganz normal im Alltag bewegen, allerdings ist es besser, wenn Sie keine Dehnungen oder längerdauernde Überkopfarbeit machen, sondern alles möglichst ruhig halten.
Andernfalls provozieren Sie die meist schon entzündeten Strukturen und rufen nur noch schlimmere Schmerzen hervor.
4. Suchen Sie einen Arzt und Therapeuten auf und lassen Sie sich professionell behandeln
In unserer Behandlung schauen wir sehr genau nach den Ursachen und behandeln diese gezielt.
Oftmals hilft es, wenn wir die erste Rippe mobilisieren und “weicher machen”, da deren gelenkige Verbindung zur Halswirbelsäule häufig blockiert ist.
Es kommt bei uns Menschen immer wieder vor, dass die Rippe in der Einatmung zu hoch stehen bleibt und dadurch zu Einengung und Problemen führt.
Weitere Behandlungspunkte unserer Physiotherapie
- Entzündungshemmung mit Oklussionsverbänden und Elektrotherapie (Iontophorese)
- Haltungsverbesserung durch Kräftigung des Musculus trapezius
(Es liegt fast immer eine Schwäche vor, wobei noch nicht endgültig erforscht ist, ob diese eine Ursache oder Folge von TOS darstellt) - Nervenmobilisation
(sanfte Bewegungen der Nervenbahnen, um diese zu lösen) - Massage und Weichteilbehandlung
(beruhigt das Schmerzsystem und löst verhärtetes Gewebe) - Ausdauertraining und Stressreduzierung
(TOS-Patienten haben oft einen erhöhten Herzrhythmus in Ruhe)